Page 9 - lwl-klwa-klinikmagazin-19-2016-ef.indd
P. 9
Hermann Hesses „Steppenwolf“ droht an der Absurdität der Welt zu ersticken. Rettung findet er schließlich im Humor.an Mutters Brust. In kollektiv vorhandenen „archaischen Bildern des Unbewussten“ 4 sehnt er sich nach Verständnis, Geborgen- heit, nach selbstverständlicher Bedürfnis- befriedigung. Wünsche sollen erspürt wer- den. Der andere soll die eigenen Gefühle wahrnehmen, zutiefst begreifen.Das „Ich“ soll im „Du“ dialektisch auf- gehoben werden und zwar – ganz wie Hegel 5 formuliert – in seinem dreifachen Wortsinn: beseitigt, erhöht und bewahrt.„Wie innig wir uns auch bemühen mögen, uns zurückzuversetzen in das Paradies vollkommener Wunschlosig keit – das Gefühl ... ist immer nur die Sehnsucht nach einem Glück, das mit dem Beginn unseres bewussten Le bens verlorenging.“ 6 Grenzüberschreitung, Nähe, die Gegen- wart des Anderen kann im erwachsenen Leben nicht wieder so erfahren werden wie in frühesten Tagen. Manchen bleibt die Sehnsucht, manche versuchen die „Lü- cke“ (Leere) mit Drogen zu überwinden. Manche entwickeln Depressionen, suizi- dieren sich gar.Auch Herrmann Hesses „Steppen- wolf“ 7 sehnt sich gequält nach Anschluss. Er liebt die verhasste, spießige, verlockend nach Putzmittel stinkende Welt. Im Haus- flur sitzt er und genießt den Geruch ver- trauter Sauberkeit – und doch, er ist ein anderer, kann die Grenze nicht mehr über- queren, sich nicht überschreiten, droht an der Absurdität der Welt zu ersticken. Har-ry Haller verzehrt sich nach Zugehörig- keit – und innerer Freiheit. Er droht zu zer- brechen, will nicht mehr leben und findet schließlich Rettung im „Humor“.Viele Beispiele wären noch zu nennen. Die Sehnsucht nach inniger Nähe scheint verbreiteter als vermutet.Maximale Individualisierung gemein schaftlich erfahrenExtreme Wünsche nach Nähe, nach Ver- schmelzung sind jedoch nicht kennzeich- nend für gelungene oder gelingende Be- ziehungen. Vielmehr entspringen sie unge- stillten, in der Regel frühkindlichen Bedürf- nissen, die besonders in Zeiten der Krise reaktiviert werden.Kommt ein (depressiver) Patient zur Be- handlung, so ist der Aufbau einer vertrau- ensvollen Beziehung – auch deswegen – oberstes Gebot. Der Therapeut versucht sich einzufühlen, in Austausch mit dem Patienten zu treten, ihn nachzuvollziehen. Zunehmend werden beide Partner gegen- seitig spürbar, wird Gestik, Mimik, Sprache voneinander gelernt. Der Patient soll, kann und darf sich im Therapeuten verankern, Halt finden sowie Schutz, Unterstützung und Geborgenheit.Suizidalität bedroht die (therapeutische) Beziehung und wird als Bedrohung spür- bar. Der Suizid ist die letzte Absage an al- le Beziehungen, die Kapitulation der See- le vor dem Schmerz der abgeschnittenen Transzendenz, dem Zerreißen der Wun- den, der Verzweiflung am Für-Sich-Seinund An-Sich-Sein, der „Verurteilung zur Freiheit“. 8Unsere Existenz ist Grundlage für die des Anderen, aber auch von dieser abhän- gig. Ohne Du kein Ich. Schwindet der Pati- ent aus der Beziehung, ist höchste Alarm- stufe angesagt.In der Praxis finden sich verschiede-ne Ausdrucksformen von Selbsttötungs- absichten. Eminent wichtig ist, jede auch noch so klein scheinende Äußerung, jeden Verdacht auf mögliche suizidale Neigun- gen unbedingt ernst zu nehmen. „Hunde, die bellen, beißen nicht“ hat hier keinen Wert. Schon die Tatsache, dass jemand psychiatrisch erkrankt ist, erhöht das Sui- zidrisiko. Eine Vernachlässigung dieser Be- drohung erscheint fahrlässig.Jedem Suizid, aber auch jeder Suizid ankündigung wohnen vier Aspekte inne: Appell, Flucht, Selbstaggressivität, Fremdaggressivität.Der Therapeut darf nun die Beziehung zu einem suizidalen Patienten nicht ge- kränkt abbrechen, sondern sollte ihm Halt und Hoffnung vermitteln, die Beziehung ganz explizit wollen und engmaschig an- bieten. Er muss versuchen, den Patienten nicht „aus“ zu lassen, den Kontakt nicht aufzugeben.Oftmals findet sich die Selbstmordab- sicht zunächst in einer lauten, plärrenden Form. Der Patient schreit seine Todeswün- sche förmlich heraus, tritt hierüber aber auch in Kontakt, ist noch in der Beziehung,Klinikmagazin Nr. 19 20169Grafik: © tairygreene / fotolia.comFoto: © pixabay.com