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n ÖffentlichkeitsarbeitDie Verführungender „schönenneuen Arbeitswelt“Immer schneller – immer besser – und dann ...?Das hier geschilderte Szenario ist na- türlich frei erfunden. Aber haben wir die einzelnen Situationen nicht alle so oder so ähnlich schon erlebt? Immer wieder lässt sich beobachten, dass Bekannte auch nach Feierabend keinen solchen haben. Und pri- vat ist ohnehin jeder zu jeder Zeit erreich- bar, sei es über WhatsApp, Facebook, per SMS, E-Mail oder natürlich telefonisch. Die Folge: Es gibt kaum ein Zusammentreffen mehrerer Akteure, bei dem es nicht zu ir- gendeiner Unterbrechung kommt. Das können der Anruf eines Kollegen, die SMS eines Freundes, die Info über einen Spieler- transfer des Lieblingsvereins oder der Link zu einem lustigen Katzen-Video. Nur zu gerne lassen wir die Anwesenden an un- seren frisch gelieferten Informationen teil- haben. Und nur zu gerne brüsten wir uns damit, wie wichtig wir sind, wie viel wir be- ruflich zu tun haben und dass wir – selbst- verständlich! – permanent „auf Sendung“ sind. Aber warum?Wir wollen interessant sein, dazugehö- ren, dürsten nach Anerkennung. Fehlt die- se im Berufsleben, müssen halt die Freun- de herhalten. Wir wollen mit der Zeit ge- hen, dürfen nicht innehalten, wollen die Schnellsten, die Besten sein. „Time is mo- ney“, sagte schon Benjamin Franklin im Jahr 1748.Während meiner Ausbildung zur Re- dakteurin habe ich zuerst gelernt, dass ei- ne Nachricht publiziert werden muss, be- vor die Konkurrenz Wind davon bekommt. Nichts ist so alt wie die Zeitung von ges- tern. Vom Internet ganz zu schweigen. Wer seine Seiten nicht auf dem neuesten Stand hält, verbreitet veraltete Informationen. Wer sich nicht, etwa via Twitter, über neu-„Och nöö, der schon wieder!“ – Stefan blickt entnervt auf sein Blackberry. Als er unsere fragenden Gesichter sieht, erklärt er: „E-Mail vom Chef. Er will was zu ei- ner Statistik wissen.“ Stefan legt das Ge- rät zur Seite und greift nach den Würfeln. Es ist 21.35 Uhr an unserem monatlichen „Siedler“-Abend. Wir sitzen gemütlich am Küchentisch und sind ganz ins Spiel ver- tieft. Eigentlich. Doch nun lässt Stefan der Gedanke an die Arbeit nicht mehr los. Schon nach kurzer Zeit kramt er sein Han- dy wieder hervor: „Sorry, aber ich will bes- ser kurz antworten. Wer weiß, ob ich den morgen erreiche...“An „Siedeln“ ist nun vorerst nicht mehr zu denken. Während Stefan seine E-Mail tippt, erzählt Kerstin: „Bei uns wird es auch immer schlimmer. 124 neue Mails hatte ich letzte Woche, als ich aus dem Urlaub zu- rück war. Mehr als zwei Stunden habe ich gebraucht, bis ich die alle durchgearbeitet hatte.“ – „Das ist doch noch easy“, Stefan blickt kurz von seinem Handy auf. „Nach meinem Urlaub hatte ich über 300 Mails. Da war ich aber schnell durch, meistens war ich nur in ‚cc’ gesetzt worden.“ Unddie allermeisten davon hast Du bestimmt schon während des Urlaubs beantwortet, füge ich in Gedanken hinzu. Zurückhalten kann ich mich aber auch nicht, erzähle von den vielen Aufgaben, die in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit oft gleichzeitig erle- digt werden müssen, und von der Mangel- ware Zeit.Stefan, der Kundenbetreuer eines Fi- nanzdienstleisters; Kerstin, die Redakteurin einer Tageszeitung; ich, die Öffentlichkeits- beauftragte der LWL-Kliniken – nur Sabi- ne guckt etwas sparsam aus der Wäsche: als Mutter zweier Kinder ist sie seit eini- gen Jahren in Elternzeit. Schließlich sagt sie: „Wisst ihr was: Wir sitzen hier nicht, um zu hören, wie toll ihr alle bei der Arbeit seid! Will hier überhaupt noch jemand weiter spielen?“ Wir sehen uns an: Ertappt! Wir wenden uns wieder den Städten und Sied- lungen „Catans“ zu, bis kurz darauf Sabi- nes Handy summt. Blitzschnell nimmt sie es zur Hand und fängt an zu schreiben. „Dein Chef?“, frage ich scherzhaft. – „Wohl kaum, nur Mareike über WhatsApp. Die will wissen, wer morgen alles zum Eltern- abend kommt.“38Klinikmagazin Nr. 18 2015Foto: © jayfish / fotolia.com


































































































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